KlassikAuto Berlin

Geschichten aus einer Oldtimergarage und dem historischen Motorsport



Nylons, Avon, scharfer Blick

von M.Pohle am 13. Juli 2011

Ein scharfer Blick ist zum Betrachten schöner Dinge unermesslichNeulich, an einem Samstagabend, saß ich mit meiner Frau gemütlich vor dem Fernseher. Wie immer. Klassisch halt. Wir schauten »Wetten das?«. Den  Klassiker halt. Mit über fünfzig Lebensjahren gehören wir wohl mittlerweile auch zu den Klassikern. Meine Frau interessiert sich nicht für Oldtimer, nimmt nicht wirklich Teil an meiner Leidenschaft. Warum auch. Solange sie nur nichts dagegen hat.

Aber an diesem Abend war das anders.


Das langweilige Fernsehprogramm lies mich  mit verträumten Blick auf ihrem bunt lackierten Fußnagel vom grossen Zeh hängenbleiben. Überpräsent stellte er seine Farbe zur Schau. Ihr Strumpf hatte eine Laufmasche gezogen. »Na ja, wohl auch schon ein betagtes Modell, welches seine Haltbarkeitszeit überschritten hat«, dachte ich mir. Der bunte Glanz erinnerte mich an die Felgen meines alten Rover P4, die in Wagenfarbe lackiert sind. Und die Laufmasche? Unweigerlich fing ich an zu grübeln, wie alt wohl die Pneus an meinem »Auntie« sind. Ob diese wohl auch schon das Verfallsdatum überschritten hätten? Trotz aller Versuche konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann ich diese das letzte Mal erneuert hatte. Folglich beschloss ich diesen Umstand zu ändern und der Sache auf den Grund gehen zu wollen.

Am nächsten Vormittag nahm ich mir den dicken Ordner mit den gesammelten Unterlagen von meinem Rover vor. Er ist fast so umfangreich wie ein Band der Brockhaus Enzyklopädie. Nun ja, vielleicht nicht ganz so viele Seiten. Aber fünfzig Jahre dokumentierte Vergangenheit hatte ihn doch recht fettleibig werden lassen. Vom originalen Erstkaufvertrag bis zur letzten Ersatzteilrechnung ist der dicke Ordner ein Teil meines ganzen Stolzes. Sieht man einmal vom eigentlichen Objekt meiner Leidenschaft ab. Aber eine Rechnung über angeschaffte Reifen für das alte Auto? Fehlanzeige! Der Schreck saß tief. Nicht nur, weil mir in meiner akribischen Sammelwut anscheinend eine Rechnung fehlte. Vielmehr beschlich mich der Verdacht, ich könnte erste Anzeichen von Altersvergesslichkeit an mir verzeichnen. Also blieb mir nur der praktische Versuch übrig, herauszufinden ob meine Reifen noch brauchbar waren.

Nach dem Mittagessen fuhr ich in die Werkstatt. Mal so eben zwanzig Kilometer. Nur um schnell einen Blick auf die Pneus zu werfen und nach dem eingeprägten Herstellungsdatum zu schauen.  Wieder Fehlanzeige! Selbst nach der vierten Umrundung meiner alten Dame und der mehrmaligen Inspektion eines jedes einzelnen Reifens konnte ich keinen Hinweis auf das Herstellungsdatum ausfindig machen. Die britischen Avon-Gummis, auf die ich aus Authentitätsgründen (englisches Auto = englische Reifen) wert gelegt hatte, gaben einfach keine Aufklärung darüber. Sollten sich die Briten eventuell einer EU-Richtlinie widersetzt haben? So, wie sie schon starrrsinnig der Euro-Währungseinführung trotzten? Und ich hätte davon nichts mitbekommen? Der anfänglich gehegte Verdacht der Altersvergesslichkeit schien sich zu verhärten.  Nur eines wurde mir an diesem Nachmittag schonungslos  vor Augen geführt. Die Altersweitsichtigkeit meiner Augen hatte Einklang mit  dem weltlichen Fortschritt gehalten. Anders konnte ich mir die verschwommene Wahrnehmung der Buchstaben und Zahlen auf den Reifen nicht erklären. Nie wurde mir deutlicher bewusst, dass auch der menschliche Oldie hin und wieder mal ein wenig Pflege und Wartung braucht. Von einem neuen Ersatzteil ganz zu schweigen. Ich beschloss, bei nächster Gelegenheit meinen Augenarzt zu konsultieren, um meine Sehstärke neu bestimmen zu lassen. Wenn ich schon nicht über das Alter meiner Reifen Bescheid wusste, wollte ich wenigstens die Gewissheit besitzen, dass meine Brillengläser dem neuesten Stand der Zeit entsprachen. Die wenigen kleinen, feinen Oberflächenrisse, die ich dann doch an der Innenseite der Reifen meiner alten Lady, wenn auch  recht undeutlich, wahrnehmen konnte, stimmten mich auf meinem Heimweg allerdings  ein wenig nachdenklich.

Wieder daheim, genoss ich die sonntägliche Tasse Kaffee mit meiner Frau zusammen. Wie jeden Sonntag. Klassisch halt. Ich lies meine geliebte Gattin nicht wissen, dass sie mehr an meinem rostigen Hobby teilnahm, als ihr bewusst war. Wenn mich schon eine Laufmasche an diesem Tag an den Rand einer schweren Depression geführt hatte, so sollte doch wenigstens etwas so bleiben, wie es immer war.

Einige Tatorte, Musikantenstadl und Desperates Housewives später, saß ich mit meiner Frau am Samstagabend wieder gemütlich vor dem Fernseher. Klassisch halt. Wie immer.
Wie immer? Nicht ganz. Zwar lief wieder »Wetten das?« im Programm, aber die Strümpfe meiner Frau waren diesmal laufmaschenfrei. Und der Rover hat jetzt auch neue Reifen. Natürlich wieder von Avon. Diesmal mit eingeprägtem Herstellungsdatum. Dank neuer Lesebrille klar erkennbar. Und die Rechnung ist auch fein säuberlich im Ordner abgeheftet worden.

Ach ja, die liebe Oldtimerei.

{ 1 Kommentar… lesen Sie unten oder schreiben Sie selbst einen }

Dirk W. November 4, 2011 um 12:33

Hallo Michael,
du bist ja nicht nur ein guter Blechkünstler, sondern auch noch ein begabter Literat.
Schöne Seite und mal anders als das sonst Übliche.
Gruss
Dirk

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